Die Nacht der Haendler by Gert Heidenreich

Die Nacht der Haendler by Gert Heidenreich

Author:Gert Heidenreich [Heidenreich, Gert]
Language: deu
Format: epub
ISBN: 9783784431833
Publisher: Langen - Mueller Verlag
Published: 2009-02-01T23:00:00+00:00


11

DIE LANDSCHAFT tröstet nicht mehr. Sie können nicht empfinden, was das bedeutet. Ich hatte eine unglückliche Nacht mit Charisia. Nein, keine ungelungene – in unserem Alter bewertet man nicht mehr. Wir lagen unter einem Netz aus Sorge gefangen, Giaccos Sterben als kalte Schwärze zwischen uns. Und so eng wir unsere Körper auch aneinanderlegten, es blieb ein Abgrund. Als hätten wir all die Jahre nur so unbeschwert erleben können, weil wir glaubten, dass Giaccos junges Dasein uns immerfort begleiten würde.

Heute morgen verließ ich leise Charisias Haus. Sie schlief endlich. Ich stand auf meiner Terrasse, die Hunde drückten sich an meine Beine. Ich fror in der Nebelluft, kreuzte meine Arme vor der Brust, hielt meine Schultern fest und schaute auf das Meer. Es schien mir ferner zu sein als sonst. Die Täler und Olivenhänge, die kleinen Dörfer mit ihren Kirchen lagen blass und undeutlich zwischen mir und der Küste. Aber dort, wo morgens das Meer unter dem von Osten aufsteigenden Licht mir sonst kleine Blitze sendet, lag heute früh eine Bank aus rötlichem Dunst. Nicht rosenfingrige Frühe … nein, wie der müde Widerschein eines den ganzen Horizont erfüllenden Feuers in seinem eigenen Rauch. Langsam hob sich der kalte Nebel, verhüllte alles, ich sah nur noch den Feigenbaum am Rand der Terrasse. Dann spürte ich im Rücken den Wind. Er zog die Nebelschwaden mit sich, und bald war das Bild des Tals, der Hänge, des Meeres klar wie gewohnt – doch ich fühlte mich um den Morgen betrogen. Signora Calises Bruder Antonio kam herauf und brachte mir Ihren Brief. Ungelesen ließ ich ihn liegen und bat Antonio, mich nach Imperia zu Giacco zu fahren. Wir sprachen kein Wort auf der Fahrt. Dann stand ich neben dem Bett des Jungen. Antonio hatte sich in der Fensterecke des Krankenzimmers auf einen Stuhl gesetzt, die Unterarme auf die Knie gelegt und seine Hände gefaltet. Giacco lag mit weit geöffneten Augen, sein Gesicht war rosig, er sah gesünder aus denn je. Die Maschine, die durch den Kehlkopfschnitt seine Lungen voll Sauerstoff pumpte, hob seinen Brustkorb regelmäßig und sanft an, ließ ihn einsinken, hob ihn wieder. Der Kopfverband sah aus wie eine jener weißen Mützen, die die Kinder während der Osterprozessionen in unseren Bergdörfern hier tragen, und mir fiel ein, dass ich Ihren ersten Brief am Karfreitag diesen Jahres von Giacco gebracht bekommen hatte. Antonio stand auf, trat neben mich ans Bett, beugte sich über den Jungen und küsste seine Stirn. Dann nahm er mich am Arm, wir gingen aus dem Zimmer, im Gang griff er nach meiner Hand, und so liefen wir beide, seine knorrigen, hölzernen Finger in meinen, bis zur Schwingtür zum Treppenhaus, er löste seine Hand aus meiner, stieß den gläsernen Türflügel auf. »Maria wird helfen«, sagte er, »Maria wird helfen.« Inzwischen, ferner Freund, habe ich gelesen, was Sie mir über die Hysterie an den Goldmärkten, den Zusammenbruch des Shell-Imperiums, die Pleiten von Ford, Volkswagen und Toyota, die weltweite Entleerung der Sparkonten und die damit verbundene Flucht in die Sachwerte geschrieben haben. Ich verstehe die



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